13

Blitze zuckten am Horizont, und in ihrem Licht erkannte man die Unterseite dicker, rötlicher Quellwolken. Es würde noch vor dem Morgen Regen geben. Rein routinemäßig hielt Dane das Steuer fest, er verbannte alle Gedanken aus seinem Kopf. Keinesfalls durfte er jetzt an Nadine Vinick denken; denn sonst würden seine Erwartungen ihn dazu führen, Ähnlichkeiten zu sehen, die es gar nicht gab. Er durfte auch nicht an Marlie denken, denn sonst wäre seine ganze Konzentration beim Teufel. Energisch verscheuchte er alle Assoziationen zu dieser Szene, die sich ihm gleich bieten würde, versuchte zu vergessen, was Marlie ihm beschrieben hatte. Er wollte sich kein Vorurteil bilden, musste sich vielmehr den Blick freihalten.

Es war noch früh genug, die Verkehrsdichte spärlich. Da er trotzdem so schnell wie möglich voranzukommen trachtete, fuhr er viel zu dicht hinter einem Lastwagen auf. Gerade in diesem Augenblick flog von einem der Reifen, die das Fahrzeug geladen hatte, ein Stück ab und knallte vorn gegen seine Front. Mit einem Fluch ließ Dane seinen Wagen ein Stück zurückfallen; immerhin verhalf ihm dieser Zwischenfall dazu, seine Gedanken von all dem Wirrwarr auf das Wesentliche zu lenken.

Es dauerte wenig mehr als zehn Minuten, bis er 3311 Cypress Terrace erreicht hatte. Die Straße stand voller Polizeifahrzeuge, Neugierige drängten sich an den Absperrungen. Dane stieg aus seinem Wagen und musterte dann die Menschen aufmerksam; er suchte nach einem Gesicht, das er vielleicht schon einmal gesehen hatte. Wenn es sich um denselben Täter handelte, der beide Frauen ermordet hatte, war der vielleicht schon einmal in der Nähe von Nadine Vinicks Anwesen erschienen. Doch keines der vielen Gesichter kam ihm bekannt vor.

Cypress Terrace war eine etwas gehobenere Gegend als die, in der die Vinicks gelebt hatten. Die Häuser waren zwar nicht größer, aber erst ungefähr zehn Jahre später gebaut worden. Es gab einen kleinen Unterstand für den Wagen gleich neben dem Haus, und dort entdeckte er auch eine Ansammlung von Menschen in Uniform, einer von ihnen schien Wache zu stehen.

Freddie Brown und ihr Partner Worley hatten an diesem Wochenende Dienst, beide waren bereits eingetroffen. Freddie kam aus der Gruppe der Polizisten auf Dane zu, als sie ihn sah. »Hi, Süßer«, sagte sie und hängte sich bei ihm ein. Sie hielt ihn fest, so dass er stehenbleiben musste »Du brauchst dich nicht zu beeilen«, bat sie. »Hör mir einen Augenblick zu.«

Wenn es jemand anders als Freddie gewesen wäre, so hätte Dane ihn nicht weiter beachtet und wäre weitergegangen. Doch Freddie war zuständig für dieses Verbrechen. Sie hätte ihn nicht ohne einen Grund beiseite gezogen. Er blickte auf sie hinunter und hob dann fragend eine Braue.

»Wie man mir mitteilte, wolltest du benachrichtigt werden, wenn es eine weibliche Leiche mit Stichwunden gibt«, sagte sie.

Er nickte kurz und hoffte, dass sie sich nicht über seine Einmischung in einen ihrer Fälle ärgerte.

Sie tätschelte aufmunternd seinen Arm. »Ich habe mir gedacht, dass da etwas dahintersteckt, also habe ich auf dich gewartet. Du kannst das als eine Art Geburtstagsgeschenk nehmen.«

»Du hast auf mich gewartet?« wiederholte er erstaunt. »Willst du damit sagen, dass noch niemand im Haus war?«

»Das will ich damit sagen. Der Polizist, der die Leiche gefunden hat, hat eine Medaille verdient. Sobald er sah, was los war, hat er sich zurückgezogen, hat nichts angerührt, bis auf die Türklinke und sofort alles abgesperrt. Wahrscheinlich ist es der fleckenloseste Tatort, den du je betreten hast. Ivan ist auch schon unterwegs.«

»Dann lassen wir ihn erst mal kommen«, entschied Dane. »Danke, Freddie. Aber wieso hat der Polizist die Leiche überhaupt gefunden?«

Freddie blätterte in ihrem Notizbuch. »Der Name des Opfers ist Jacqueline Sheets, sie ist geschieden und hat keine Kinder. Ihr Exmann lebt in Minnesota. Sie hat in einer der großen Anwaltsfirmen gearbeitet als Sekretärin und ihre Arbeit sehr gut gemacht. Mit einer Freundin, ebenfalls Sekretärin in der Kanzlei, hatte sie sich zum Essen verabredet. Und als sie dann nicht kam, hat diese Freundin versucht, sie anzurufen - alles vergebens. Offensichtlich war die Sheets eine ganz normale, sehr pünktliche Frau; sie hatte wohl kürzlich einige gesundheitliche Probleme, deshalb machte ihre Freundin sich Sorgen. Sie ist hergekommen, um nachzusehen. Der Wagen der Sheets stand vor dem Haus, das Licht war an, und der Fernsehapparat lief, doch auf ihr Klopfen kam niemand an die Tür. Also ist sie in ein Nachbarhaus gegangen und hat von dort aus die Polizei alarmiert. Die Polizisten Charles Marbach und Perry Palmer waren in der Nähe und am Tatort, noch ehe der Krankenwagen eintraf. Sie haben an die Tür geklopft, doch auch sie hatten keinen Erfolg. Polizist Marbach hat das Schloss der Haustür aufgebrochen und ist nach einem Blick auf das Opfer, ohne etwas zu berühren, sofort zurückgetreten.« Sie schloss ihr Notizbuch. »Die Freundin heißt Elizabeth Cline. Sie sitzt dort drüben in ihrem Auto. Sie hat auch einen Blick auf das Opfer geworfen und ist verständlicherweise einigermaßen erschüttert.«

Noch ein Wagen bog in die Straße ein. Dane blickte auf und entdeckte Trammell. Freddie betrachtete Dane forschend. »Also, wie wäre es, wenn du mir verraten würdest, was hier los ist?«

»Wir suchen nach Gemeinsamkeiten mit dem Fall Vinick«, sagte er ruhig. »Es könnte nämlich derselbe Täter sein.«

Ihre Augen weiteten sich, ein Ausdruck des Schreckens überzog ihr Gesicht, als sie begriff. »Oh, Shit«, hauchte sie. »Wir haben sogar den gleichen Wochentag.«

»Denkst du, das ist mir nicht auch aufgefallen?« Dane stellte sich schon die Schlagzeilen in den Samstagszeitungen vor. Er fragte sich, welchen sensationellen Titel sie diesem Fall wohl geben würden, wenn sich herausstellen sollte, dass der Tod bereits vor Mitternacht eingetreten war. Der Freitagsmörder? Oder der Freitagsficker?

Trammell kam zu ihnen herüber, er trug eine weizenfarbene Leinenhose und ein himmelblaues Seidenhemd. Sein Haar war perfekt gestylt und sein gutaussehendes Gesicht frisch rasiert. An ihm gab es weder Knitterfalten noch Bartstoppeln. Dane fragte sich, wie, um alles in der Welt, er das nur fertig brachte.

Er berichtete Trammell die Sachlage. »Möchtet ihr mit der Freundin reden?« wollte Freddie wissen.

Dane schüttelte den Kopf. »Das ist deine Show. Wir wollen uns nur ein Bild machen.«

»Dazu braucht ihr aber nicht auf Ivan zu warten.«

»Natürlich nicht. Aber ich möchte, dass er den Tatort so fleckenlos wie möglich bekommt.«

»Ich würde behaupten, so astrein wie diesen wird er wohl nie wieder einen Tatort erleben.« Sie tätschelte den beiden mütterlich den Arm, dann ging sie zu der Gruppe zurück, die noch immer bei dem Unterstand für den Wagen stand.

»Es ist ein Haus«, meinte Trammell. »Keine Zypressenbäume, die Adresse hießt Cypress Terrace. Wir waren immerhin auf der richtigen Spur. Es wird interessant sein zu erfahren, ob der Fernsehapparat wirklich einer dieser großen Geräte ist, die auf einem Sockel stehen.«

Dane schob die Hände in die Hosentaschen. »Hegst du immer noch Zweifel?«

»Eigentlich nicht.«

»Ich auch nicht. Verdammt. Der Chef ist benachrichtigt. Er wird jeden Augenblick hier sein.«

Ivan Schaffer kam im Wagen der Spurensicherung. Er stieg aus und kam auf die beiden zu.

Er war nicht eben gut gelaunt. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er Trammell und Dane. »Ich weiß nicht, was euch dazu veranlasst, mich persönlich herzuzitieren. Da sind doch gute Leute im Einsatz. Warum hat Freddie darauf bestanden, dass ich selber auch noch erscheine?«

Offensichtlich hatte Freddie geahnt, dass es sich hier um etwas Ungewöhnliches handeln musste, der Himmel segne sie! Dane fragte sich, ob ihr Mann ihm wohl die Nase zertrümmern würde, wenn er ihr einen Kuss gab. »Das hier ist etwas ganz Besonderes«, erklärte er Ivan und half ihm dann, sein Arbeitsgerät und seine Ausstattung auszuladen. »Zunächst einmal ist der Tatort unberührt. Du wirst der erste sein, der ihn betritt.«

Ivan hielt mitten in der Bewegung inne. »Ihr macht euch lustig über mich. So etwas ist noch nie dagewesen.«

»Diesmal schon. Und du solltest nicht damit rechnen, dass dir das in deinem Leben noch einmal passiert.«

»Sehe ich etwa aus wie ein Optimist? Okay, und was ist das andere?«

Trammell betrachtete kühl die Schaulustigen, die sich leise miteinander unterhielten. »Zum anderen glauben wir beide, dass es derselbe Täter wie bei Nadine Vinick war.«

»Ach, herrje!« Ivan seufzte und schüttelte den Kopf. »Madonna, ich wünschte, ihr hättet mir das nicht gesagt. Also stecken wir in großen Schwierigkeiten, aber ich nehme an, ihr beide wisst das bereits.«

»Wir haben darüber nachgedacht. Sind das alle deine Sachen?«

»Ja, das ist alles. Okay, dann wollen wir uns also umsehen.«

Dane rief den Polizisten Marbach, der mit ihnen ins Haus gehen sollte. Ein Streifenpolizist, der so ausgezeichnet gearbeitet hatte, hatte es verdient, in die Ermittlungen mit einbezogen zu werden. Marbach war noch jung, er hatte die Polizeischule noch nicht lange hinter sich, und unter seiner Sonnenbräune war er ganz blass Aber mit ruhiger Stimme erzählte er ihnen alle Einzelheiten, er konnte sogar die ungefähre Entfernung der Leiche von der Tür angeben.

»Kann man sie von der Straße aus sehen, wenn wir die Tür öffnen?« fragte Freddie, die mit Worley zu ihnen getreten war.

Marbach schüttelte den Kopf. »Es gibt da noch einen kleinen Flur, rechts davon ist das Wohnzimmer. Ich hatte einen Schritt in den Flur getan, als ich sie entdeckte.«

»Okay. Ivan, du bist dran!«

Ivan drückte die Klinke und betrat das Haus. Die anderen folgten ihm, doch blieben sie in dem kleinen Flur stehen und schlossen die Tür hinter sich. Der Fernsehapparat war auf einen Kanal geschaltet, auf dem rund um die Uhr Filme liefen; im Augenblick gab es einen Oldie mit Fred Astaire und Ginger Rogers. Der Ton war viel zu laut, beinahe so, als hätte Jacqueline Sheets schlecht gehört. Entweder traf das zu, oder der Ton war lauter gestellt worden, um ihre Schreie zu übertönen. Ivan drückte auf den Knopf, der Bildschirm wurde schwarz und eine wohltuende Stille breitete sich aus. Dane und Trammell warfen einen Blick auf den Fernsehapparat. Es war ein großes Gerät, sehr modern und elegant, und es stand auf einem Sockel.

Keiner von ihnen sagte ein Wort. Ivan begann schweigend seine übliche Arbeit.

Von ihrem Blickwinkel aus konnten sie sie nur zur Hälfte sehen. Die Frau war nackt, und ihr Körper sah aus, als wäre ein wildes Tier darüber hergefallen. Blut bedeckte die ganze Couch, die Wände und den Teppich. Dane dachte an die eigenartige Bemerkung, die Marlie gemacht hatte: rund herum um den Maulbeerbusch. Aber es war kein Busch gewesen, sondern eine Couch. Warum hatte sie diese Worte benutzt? Waren es Worte, die der Mörder geäußert oder gedacht hatte? Hatte sich dieser Bastard etwa lustig gemacht darüber, wie Jacqueline Sheets um ihr Leben kämpfte?

Hinter ihnen öffnete sich die Tür, und Leutnant Bonness kam herein. Er blickte auf die Szene und wurde kreidebleich. »0 Himmel.« Der erste Mord war schon schrecklich gewesen, indessen hatten sie die Szene damals als eine einmalige Sache angesehen, ohne Verbindung zu anderem Gemetzel. Doch diesmal wussten sie es besser. Jetzt betrachteten sie es als die Tat eines Verrückten, der wieder und wieder unschuldige Frauen ermorden würde und das Leben ihrer Familien und ihrer Freunde zerstörte, bis sie ihn überführen konnten. Und sie wussten auch, dass die Dinge nicht sehr günstig für sie standen, Serienmörder waren immens schwierig zu fassen.

Doch diesmal, dachte Dane grimmig, hatten sie etwas, womit der Täter nicht hatte rechnen können. Sie hatten Marlie.

»Dane und Trammell, ihr solltet euch mal umsehen. Ihr wisst, wonach ihr suchen müsst«, meinte Worley.

»Heute ist das dein Job, zusammen mit Freddie«, meinte Trammell. Seine Gedanken waren in die gleiche Richtung gegangen wie die von Dane, doch das war sowieso meistens der Fall. »Sagt uns, was ihr gefunden habt, dann werden wir uns umsehen.«

Worley nickte. Er und Freddie begannen, methodisch das Haus abzusuchen. Ivan rief das Team ins Haus, das Fingerabdrücke aufspüren sollte, und sie begannen, jede harte Oberfläche mit ihrem schwarzen Pulver zu bestreuen. Schon bald war das Haus voller Menschen, die meisten standen allerdings nur herum, wenige arbeiteten. Und dann wurde die Leiche von Jacqueline Sheets eingepackt und weggebracht. Dane hörte die Stimmen der Reporter vor dem Haus und sah auch das helle Licht der Fernsehlampen. Es würde ihnen kaum gelingen, die Sache zu vertuschen; doch er glaubte, dass man nicht viel Aufhebens machen würde von dem zweiten Mord innerhalb einer Woche. Sollte es allerdings zu einem dritten kommen, würde es jeder Reporter, der etwas von seinem Beruf verstand, nicht mehr als Zufall deklarieren. Selbst wenn man keine Gemeinsamkeiten feststellte, würden sie mit ihren Berichten großes Interesse erregen.

Bonness nahm Dane und Trammell zur Seite. »Es sieht ganz so aus, als wäre es derselbe Täter gewesen ... «

»Er war es«, versicherte Dane ihm.

»Alles ist genauso, wie Marlie es uns beschrieben hat«, erklärte Trammell. »Sogar der Typ des Fernsehgerätes stimmt.«

»Gibt es irgendeine Wahrscheinlichkeit, dass sie im voraus davon erfahren haben könnte? Ich weiß, ich weiß«, lenkte Bonness ein und hob abwehrend die Hände. »Schließlich war ich derjenige, der zuerst an ihre Fähigkeiten geglaubt hat; ihr beide hingegen habt sie eher als Tatverdächtige eingestuft. Aber jetzt muss ich euch diese Frage stellen.«

»Nein«, wehrte Dane ab. »Wir haben ermittelt, dass sie auf keinen Fall bei dem letzten Mord am Tatort gewesen sein kann, und gestern Abend war sie mit mir zusammen. Sie hat mich angerufen, als ihre Vision begann, und ich bin sofort zu ihrem Haus gefahren.«

»Okay. Ich möchte euch alle morgen früh um zehn in meinem Büro sehen. Wir werden dann zusammen durchgehen, was die Ermittlungen erbracht haben; vielleicht findet Ivan etwas Neues heraus, dann werden wir eine Untersuchungskommission einberufen. Ich sage dem Chef Bescheid, und er kann selbst entscheiden, wie viel er davon im Rathaus erzählen will.«

»Ich hoffe, er hält sich zurück«, meinte Dane. »Aus dem Rathaus sickern Informationen an die Öffentlichkeit wie aus einem Sieb.«

Bonness sah nicht gerade glücklich aus. »So etwas darf er nicht für sich behalten. Es würde ihn seinen Job kosten, wenn die Medien über die Geschichte berichten und er die wichtigen Leute nicht vorher informiert hätte.«

»Dann bitten Sie ihn doch, dass er uns wenigstens ein paar Tage Zeit lässt Beide Morde geschahen an einem Freitagabend oder einem frühen Samstagmorgen, und wenn das Muster stimmt, wird der Kerl frühestens erst wieder in einer Woche zuschlagen. Je länger wir arbeiten können, ohne dass er Verdacht schöpft, desto größer ist unsere Chance, ihn zu schnappen.«

»Ich werde mit dem Chef reden«, war alles, was Bonness ihnen versprach. Dane hatte eigentlich auch nicht mehr erwartet.

Worley und Freddie kamen zu ihnen herüber. »Die Mordwaffe haben wir in der Küche gefunden, es war ein Küchenmesser, wahrscheinlich gehörte es dem Opfer«, berichtete Worley. »Es passt zu den anderen Messern in der Küche. Er ist durch das Fenster im Gästezimmer eingestiegen, nachdem er die Scheibe herausgeschnitten hat.«

»Gestern Abend hat es geregnet«, meinte Dane. »Gibt es Fußspuren unter dem Fenster?«

Freddie schüttelte den Kopf. »Nichts. Er war sehr umsichtig.«

»Oder er ist ins Haus eingestiegen, ehe es zu regnen begann, und hat sich im Schlafzimmer versteckt«, schlug Trammell vor.

Freddie wurde bei diesem Gedanken blass »Gott, mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass er vielleicht schon stundenlang im Haus war, und sie hat nichts davon gewusst«

»Und danach?« fragte Marbach. Er wurde ein wenig rot, als sich alle gleichzeitig zu ihm umwandten. »Ich meine, als er wieder verschwunden ist, muss es doch schon geregnet haben. Hätte er dann nicht Fußspuren hinterlassen müssen ?«

»Nur, wenn er auf dem gleichen Weg wieder gegangen ist, auf dem er auch ankam«, sagte Dane. »Und dafür gibt es ja keinen Grund. Er konnte zur Tür hinausgehen, das hätte weit weniger Misstrauen erregt, sollte ihn jemand gesehen haben. Doch das bezweifle ich. Die Einfahrt und auch der Bürgersteig sind aus Beton, es gibt dort keine Spuren.«

»Offensichtlich trug sie einen Pyjama, als er über sie herfiel«, meldete Freddie sich zu Wort, nach einem Blick auf ihre Notizen. »Wir haben ihn gefunden, er lag im Wäschekorb. Das Blut daran lassen wir untersuchen, um sicherzugehen, dass es vom Opfer stammt.«

»Wie steht es mit einem Ehemann oder einem Freund ?« wollte Bonness wissen.

»Nichts. Nach dem, was ihre Freundin draußen erzählt hat, gibt es einen Exmann, der in Minnesota lebt; aber sie sind schon seit zwanzig Jahren geschieden, und währenddessen haben die beiden auch keinen Kontakt mehr miteinander gehabt. Einen Freund hatte sie gegenwärtig auch nicht. Okay, seid ehrlich, Jungs. Sieht es so aus, als hätte derselbe Täter beide Frauen ermordet?«

»Ich fürchte ja«, antwortete Dane. »Hat die Sheets regelmäßig Bars aufgesucht oder Fitnessclubs, irgendwelche Orte, wo sie mit vielen Männern zusammenkam?«

»Das weiß ich nicht. So weit sind wir mit der Befragung der Freundin noch nicht gediehen. Warum redet ihr nicht mit ihr, während wir hier drinnen den Rest erledigen? Wir werden sowieso später unsere Aufzeichnungen vergleichen«, schlug Worley vor. Am Ton seiner Stimme war leicht zu erkennen, dass er am liebsten die ganzen Untersuchungen zu diesem Fall Dane und Trammell überlassen hätte.

Eine niedrige Mauer aus Zementsteinen, zwei Handbreit hoch, schloss den Unterstellplatz für den Wagen auf einer Seite ab. Elizabeth Cline saß in sich zusammengesunken auf dieser Mauer und starrte ratlos auf die vielen Polizisten um sich herum. Sie war eine große, schlanke Blondine mit kurzgeschnittenem Haar, das wie eine Federkappe um ihren Kopf lag. Dazu trug sie lange Ohrringe, die fast bis auf ihre Schultern hingen. Abgesehen von diesen Ohrringen war sie durchaus nicht aufgetakelt; sie trug Sandalen, gelbe Leggings, dazu eine lange weiße Bluse mit einem fröhlichen, gelb-roten Papagei darauf. An den Händen sah man mehrere Ringe, doch kein Ehering war dabei, stellte Dane mit einem schnellen Blick fest.

Er setzte sich neben sie auf die Mauer, und Trammell, der sowieso immer gerne Abstand bewahrte, lehnte sich an das Auto von Jacqueline Sheets.

»Sind Sie Elizabeth Cline ?« fragte Dane, um sicherzugehen. Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu, als habe sie gar

nicht bemerkt, dass er neben ihr saß. »Ja. Und wer sind Sie ?«

»Detektiv Hollister.« Er deutete auf Trammell. »Und das ist

Detektiv Trammell.«

»Nett, Sie kennenzulernen«, sagte sie höflich, doch dann trat der Ausdruck des Entsetzens in ihre Augen. »0 Gott, wie kann ich nur so etwas sagen? Es ist nicht nett, Sie kennenzulernen. Ich bin wegen Jackie gekommen, und dass Sie hier sind, bedeutet ...«

»Ja, Ma'am, Sie haben recht. Es tut mir leid. Ich weiß, es war ein Schock für Sie. Würden Sie uns trotzdem ein paar Fragen beantworten ?«

»Ich habe doch schon mit den beiden anderen Polizisten gesprochen.«

»Das ist richtig, Ma'am. Aber uns sind noch einige andere Dinge eingefallen, und alles, was Sie uns sagen können, hilft uns vielleicht, den Mörder zu finden.«

Um Fassung ringend, hatte sie die Arme vor der Brust verschränkt und zitterte am ganzen Körper. Es war eine schwüle, feuchtwarme Nacht, aber sie stand unter Schock. Dane trug keine Jacke, die er ihr um die Schultern hätte legen können, deshalb bat er einen der Kollegen, die in ihrer Nähe standen, eine Decke zu holen. Einige Augenblicke später konnte er sie darin einwickeln.

»Danke«, sagte sie und zog sie fest um sich.

»Gern geschehen.« Sein Instinkt riet ihm, den Arm um sie zu legen und sie zu trösten; doch er fühlte sich befangen, deshalb begnügte er sich damit, ihr auf den Rücken zu klopfen. Die einzige Frau, die er noch in die Arme nehmen konnte, war Marlie; indem er sie besessen hatte, hatte er für immer allen anderen entsagt. Er fühlte die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, doch verbot er sich jetzt solche Gedanken. Später würde er sich mehr Zeit dafür gönnen.

»Sie haben Detektiv Brown erzählt, dass Miss Sheets zur Zeit keinen Freund hat. Hat sie erst vor kurzem eine Partnerschaft abgebrochen, oder hatte sie manchmal eine zwanglose Verabredung ?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Mit niemandem? Hat sie seit ihrer Scheidung überhaupt einen ernsthaften Bewerber gehabt ?«

Elizabeth riss sich zusammen, so weit, dass sie den Kopf heben und ihn wehmütig anlächeln konnte. »Aber sicher.« Ihre Stimme klang bitter. »Zwölf Jahre lang hatte sie eine Affäre mit einem der Anwälte unserer Firma. Er hat ihr die ganze Zeit die Heirat in Aussicht gestellt, wenn erst die Scheidung über die Bühne wäre, doch vorläufig war er ja noch dabei, seine Karriere aufzubauen. Und als er das endlich geschafft hatte, war der richtige Zeitpunkt da: Er ließ sich scheiden und heiratete prompt eine Dreiundzwanzigjährige. Jackie war am Boden zerstört, aber sie arbeitete schon so lange in der Firma, dass sie nicht mehr leicht woanders unterkam. Er wollte die Affäre gern fortsetzen, trotz seiner Heirat, aber Jackie hat in aller Ruhe Schluss gemacht. Wenigstens hat er nicht ihre Entlassung betrieben, aber ich denke, dazu hatte er auch keinen Grund. Ihre Affäre war kein Geheimnis, alle in der Firma haben davon gewusst«

»Und wann war das ?«

»Da muss ich nachdenken. Ungefähr vor vier Jahren, soweit mir bekannt ist.«

»Und mit wem ist sie seitdem ausgegangen?«

»Ich wüsste nicht, dass sich in der Richtung noch etwas tat. Vielleicht ein- oder zweimal, gleich nachdem die Affäre zu Ende war. Aber das ganze letzte Jahr ist sie definitiv mit niemandem mehr ausgegangen. Sie hatte einige gesundheitliche Probleme und fühlte sich nicht wohl genug für diese ganzen Sachen. Ungefähr einmal die Woche sind wir beide zum Essen gegangen, das hat ihr ein wenig Auftrieb gegeben.«

»Was waren das denn für Gesundheitsprobleme?«

»Es handelte sich um Verschiedenes. Sie hatte eine schlimme Gebärmutterentzündung und musste sie sich vor einem Jahr schließlich entfernen lassen. Dazu hatte sie noch ein Magengeschwür und hohen Blutdruck. Es waren keine lebensbedrohlichen Krankheiten, aber sie schienen alle auf einmal zu kommen, und das hat sie bedrückt. In letzter Zeit ist sie einige mal ohnmächtig geworden. Deshalb war ich ja auch in Sorge, als sie nicht pünktlich in dem Restaurant erschien, in dem wir uns verabredet hatten.«

Wieder einmal waren sie in einer Sackgasse gelandet; es hatte keine Freunde oder Liebhaber gegeben, doch das überraschte Dane nicht. Er wollte nur alle Möglichkeiten ausloten. »Erwähnte sie vielleicht in letzter Zeit einmal, dass sie jemanden kennengelernt hat? Hat sie sich unter Umständen mit jemandem gestritten, oder hat sie davon gesprochen, von jemandem verfolgt zu werden?«

Elizabeth schüttelte den Kopf. »Nein, Jackie war ein sehr ausgeglichener Mensch, sie ist mit allen gut zurechtgekommen. Sie ist nicht einmal wütend geworden, als David sein kleines Häschen geheiratet hat. Eigentlich habe ich in letzter Zeit nur einmal erlebt, dass sie die Fassung verlor, und zwar weil an ihrer neuen Seidenbluse gleich nach dem ersten Waschen die Nähte aufgingen. Jackie liebte schöne Kleidung und war sehr eigen damit.«

»Ist sie regelmäßig irgendwo hingegangen, wo sie vielleicht jemanden kennenlernen konnte?«

»Nirgendwo, außer in den Supermarkt.«

»Jeder hat doch in seinem Leben eine gewisse Regelmäßigkeit«, drängte Dane sanft. Sie mussten herausfinden, nach welchem Gesichtspunkt der Mörder sich seine Opfer aussuchte. Nadine Vinick und Jackie Sheets besaßen irgendeine Gemeinsamkeit, die die Aufmerksamkeit des Mörders auf sie gelenkt hatte. Sie wohnten in verschiedenen Gegenden, also das konnte es nicht sein; es war jedoch unumgänglich, diese Gemeinsamkeit zu finden. »Ist sie regelmäßig zum Friseur gegangen, zur Bücherei oder sonst wohin?«

»Jackie hatte wunderschönes rotes Haar. Sie hat es alle paar Wochen schneiden lassen, in einem kleinen Friseurladen in der Nähe des Büros. Die Friseuse heißt Kathy, glaube ich. Vielleicht auch Kathleen oder Katherine. So ähnlich wenigstens. Die Bücherei? Nein, Jackie hat nicht sehr viel gelesen. Sie liebte Filme und hat sich viele Videofilme ausgeliehen.«

»Wo?«

»Im Supermarkt. Sie sagte, dort hätten sie die beste Auswahl, und es ersparte ihr einen Extraweg.«

»In welchem Supermarkt hat sie eingekauft?«

»Bei Phillips, etwa eine Meile von hier.«

Ein Supermarkt in einem Vorort, ganz sicher nicht der gleiche, in dem auch Nadine Vinick Kundin war. Aber Dane notierte sich alles; erst dann würden sie wissen, wonach sie gesucht hatten, wenn sie die Umstände mit denen des Falles Nadine Vinick verglichen hatten.

»Und wie steht es mit Ihnen?« fragte Dane. »Sind Sie verheiratet ?«

»Ich bin verwitwet. Seit sieben Jahren. Jackie hat mir geholfen, die schwere Zeit zu überstehen, seither sind wir befreundet. Davor kannten wir uns zwar, schließlich haben wir im selben Büro gearbeitet, doch erst damals habe ich sie richtig kennengelernt. Sie war... sie war wirklich eine großartige Freundin.« Tränen rannen über Elizabeths Wangen.

Dane klopfte ihr beruhigend den Rücken, er bemerkte Trammells rätselhafte Blicke, doch ignorierte er sie. Trammell hatte nicht den Mund aufgemacht, hatte das ganze Verhör Dane überlassen. Manchmal tat er das, wenn er aus irgendeinem Grund Dane die besseren Chancen auf Auskünfte zutraute.

»Es tut mir leid«, schniefte Elizabeth, die noch immer weinte, »dass ich Ihnen keine Hilfe bin.«

»Freilich sind Sie das«, versicherte ihr Dane. »Sie haben uns geholfen, einige Dinge auszuschließen, damit wir wissen, worauf wir uns konzentrieren müssen und nicht unsere Zeit mit Fehlanzeigen verschwenden.« Eigentlich war es eine Lüge, denn sie hatten tatsächlich nichts weiter als Spuren, die zu nichts führten. Doch sie brauchte etwas Trost, auch wenn er an den Haaren herbeigezogen war.

»Muss ich noch einmal aufs Revier kommen? Komisch«, sagte sie und wischte sich die Augen, »ich weiß, wie das Gesetz arbeitet, wenn die Anklage steht, im Gerichtsverfahren, aber über die anderen Stadien weiß ich gar nichts.«

»Nein, Sie brauchen nicht mehr aufs Revier zu kommen«, beruhigte Dane sie. »Hat Detektiv Brown Ihre Adresse und Ihre Telefonnummer?«

»Ja, ich glaube schon. Ich habe sie ihr vorhin genannt.«

»Dann sehe ich keinen Grund, warum Sie nicht nach Hause gehen können, wenn Sie möchten. Wünschen Sie eine Begleitung? Oder soll ich jemanden für Sie anrufen? Einen Freund oder einen Verwandten, der vielleicht heute bei Ihnen bleiben kann?«

Sie blickte sich um. »Mein Auto muss hier weg.«

»Wenn es Ihnen lieber ist, dass jemand Sie nach Hause fährt, dann kann ein Polizist Ihren Wagen fahren und ein Begleitfahrzeug kommt mit. Okay?«

Doch Elizabeth schien sich nicht entscheiden zu können; sie war noch viel zu durcheinander, um klar denken zu können. Dane übernahm für sie die Regie, rief einen Polizisten herbei und sorgte dafür, dass jemand sie nach Hause brachte und eine Freundin oder eine Nachbarin informierte wegen der Nacht. Sie nickte fügsam wie ein Kind, das Anweisungen für seine Hausaufgaben entgegennimmt.

»Ich habe eine Nichte, die in der Nähe wohnt«, besann sie sich schließlich. »Die werde ich anrufen.« Und sie sah Dane an, als müsse er ihr die Erlaubnis dazu geben, ihre Nichte anzurufen statt eine Freundin. Er klopfte ihr noch einmal den Rücken und versicherte ihr, das wäre in Ordnung; dann schickte er sie mit einem der Streifenpolizisten auf den Weg, den er vorher angewiesen hatte, sie so sanft zu behandeln wie ein Kind, das sich verlaufen hat.

Als Dane zurückkam, sah Trammell ihm entgegen; noch immer lag dieser rätselhafte Blick in seinen Augen.

»Was ist?« fragte er unwirsch.

Trammell verschränkte die Arme. »Ich habe doch gar nichts gesagt.«

»Aber du hast etwas gedacht. Du hast dieses beschissene Lächeln in deiner Visage.«

»Warum sollte einer lächeln, der sich beschissen fühlt?« fragte Trammell.

Er liebte diesen Mann wie einen Bruder, doch bei Gott, manchmal verspürte Dane den Wunsch, ihm an die Gurgel zu fahren. Doch wenn Trammell eine seiner Launen hatte, so gab es nichts, was ihm auch nur ein Sterbenswörtchen entlocken konnte. Dane dachte sogar daran, ihm ein paar Gläser Bier einzuflößen, um seine Zunge zu lockern, doch dann beschloss er, ihn in Ruhe zu lassen. Das Bier würde er sich für eine ganz besondere Gelegenheit aufheben.

Es gab nichts mehr zu tun, außer Freddie und Worley bei den Dingen zu helfen, die noch anstanden: Sie mussten dafür sorgen, dass der Müll eingepackt wurde, damit man ihn später minutiös untersuchen konnte, das Haus musste nach persönlichen Papieren abgesucht werden, zum Beispiel einem Tagebuch, Telefon- und Adressbüchern, Versicherungspolicen. Mit ihrem Tod würde Jackie Sheets ihre gesamte Privatsphäre verlieren. Sie würden ihre Schränke und Schubladen durchforsten, würden nach jenem Anhaltspunkt suchen, der vielleicht die Brücke zu Nadine Vinick darstellte. Was auch immer diese beiden Frauen gemeinsam hatten, war der Schlüssel zu ihrem gewaltsamen Ende. Hätte der arme Ansel Vinick sich nicht umgebracht, so hätte er ihnen dabei helfen können, dieses Detail aufzuspüren; dann hätte er auch ein Motiv gehabt, weiterzuleben, wenn er dabeigewesen wäre, den Mörder seiner Frau zu überführen. Danes Meinung nach müsste der Aufkleber >Mist passiert<, den viele Autofahrer auf ihre Stoßstangen klebten, noch durch den Zusatz >leider häufig< ergänzt werden.

Ivan hatte seine mageren Fundstücke ins Labor gebracht und begonnen, sie zu untersuchen. Jackie Sheets' Leiche war zur Autopsie in die Gerichtsmedizin gebracht worden, obwohl man außer der genauen Todeszeit nichts mehr herausfinden würde. Sie hätten sich die Mühe genauso gut sparen können, denn Dane kannte dieses Faktum, weil Marlie ihn angerufen hatte.

In das Gesicht seines Vorgesetzen hatten sich neue Sorgenfalten eingegraben, als er sich die Markierungen auf dem Boden ansah, wo Jackie Sheets' Körper gelegen hatte. »Ich erwarte euch morgen früh um zehn in meinem Büro«, wiederholte er. »Jetzt geht nach Hause und schlaft euch aus.«

Dane warf einen Blick auf seine Uhr. Es war schon beinahe eins, und plötzlich fiel ihm ein, dass er auch in der vergangenen Nacht kaum geschlafen hatte.

»Gehst du zurück zu Marlie?« fragte Trammell.

Das wollte er, der Himmel allein wusste, wie sehr er sich das wünschte. »Nein, ich möchte sie nicht stören«, sagte er statt dessen. »Sie wird jetzt sicher schlafen.«

»Glaubst du das ?«

Er dachte daran, wie sie ausgesehen hatte, als er gegangen war, erinnerte sich an den Ausdruck des Schreckens auf ihrem angespannten Gesicht. Nicht einmal einen Abschiedskuss hatte er ihr gegeben. In Gedanken war er bereits am Tatort gewesen und hatte Marlie vollkommen ausgeklammert. Eben noch hatte er sie geliebt, hatte ihren warmen Körper losgelassen, um auf das Signal seines Piepsers zu antworten, und dann war er abgezogen ohne eine einzige Zärtlichkeit. »Verdammt«, sagte er erschöpft.

»Wir sehen uns morgen«, verabschiedete Trammell sich und stieg in seinen Jaguar. Grace Roeg würde wahrscheinlich noch auf ihn warten. Sie war auch Polizeibeamtin und würde verstehen, warum er so plötzlich hatte gehen müssen. Aber Marlie kannte die Szene nicht so genau, sie war eine Frau, die ihr ganzes Leben lang allein gelebt, eigentlich genug Schmerz bis ans Ende ihrer Tage ausgehalten hatte. Sie war stark, unglaublich stark, war nicht einmal durchgedreht; doch hatte sie Narben davongetragen, sowohl körperliche als auch seelische. Es war viel Mut von ihrer Seite notwendig gewesen, sich von ihm lieben zu lassen, und was hatte er getan? Gleich beim ersten Mal war er aufs Ganze gegangen und hatte nicht einmal >Danke< gesagt.

Wenn es ihm möglich wäre, würde er sich selbst in den Hintern treten.

Sie würde nicht schlafen, sondern auf der Couch sitzen, still und ruhig, und darauf warten, dass er zurückkam. Er konnte sie nicht beschützen, indem er sie im dunkeln ließ, denn schließlich wusste sie mehr als er. Sie war Augenzeugin gewesen, in dem Mörder, sie hatte durch seine Augen zugesehen, wie er voller Genuss sein Opfer zerhackt hatte.

Dane jagte dahin, die Straßen waren jetzt beinahe leer. Es begann zu regnen, das sich nähernde Gewitter hatte die Stadt endlich erreicht. Es kam ihm vor wie die Wiederholung des frühen Abends, als er durch die nassen Straßen zu Marlie geeilt war.

Wie erwartet, brannte das Licht in ihrem Wohnzimmer noch, als er in die Einfahrt bog und den Motor abstellte. Noch ehe er ausgestiegen war, hatte sie die Haustür bereits geöffnet und stand dort, ihr Körper hob sich als dunkle Silhouette ab vor dem Licht, das hinter ihr eingeschaltet war.

Sie trug noch immer den Morgenmantel, und durch den dünnen Stoff konnte er die Umrisse ihrer Figur erkennen. Er rannte durch den Regen und sprang dann mit zwei großen Schritten die Stufen zur Veranda hoch. Sie sagte nichts, trat einfach zur Seite, um ihn einzulassen. Sie brauchte nicht zu fragen, was er gesehen hatte, weil sie es ja längst wusste

Ihre Müdigkeit schaute ihr aus den Augen. Eine absolute Erschöpfung lag in ihrem Blick, es war eine Erschöpfung, die weit über die körperliche Müdigkeit hinausging, und wieder umgab sie diese Abwesenheit, die er schon vorher an ihr bemerkt hatte.

Er wollte ihr Trost bieten, wenn sie ihn doch nur annähme! Jetzt fühlte er sich dazu berufen, ihr den heilenden Schlaf zu verschaffen. Sie würde sich entspannen in dem Bewusstsein seines Schutzes. Die ganze Nacht über wollte er sie in seinen Armen halten, wollte ihr die schlichte Freude seiner Nähe schenken.

Das war seine Absicht. Doch als sie sich schweigend gegenüberstanden, während draußen der Regen im gleichen Rhythmus hernieder rauschte, in dem sein Herz schlug, vergaß er all diese edlen Vorsätze. Erst vor wenigen Stunden hatte er sie besessen, hatte sie in der körperlichen Vereinigung zu der Seinen gemacht, doch dann waren sie unterbrochen worden. Der Akt war vollzogen, jedoch nicht besiegelt worden. Zu der wahren Intimität waren sie nicht vorgedrungen; sie war nicht in der Vereinigung und dem Höhepunkt der Lust zu finden, sondern wurde erst in der Stille danach erreicht, in der unvergleichlichen Harmonie, in der sich zwei Seelen vereinen. Er hatte das nicht mehr abwarten können, und seine Instinkte waren zu ursprünglich, diesen Ausklang nicht zu vermissen.

Er schloss die Tür hinter sich und drehte dann den Schlüssel um, doch während der ganzen Zeit ruhten seine Blicke auf ihr. Nun nahm er sie ganz ruhig in seine Arme und trug sie ins Schlafzimmer, nur einen Augenblick hielt er inne, um das Licht zu löschen.

Sie wehrte sich nicht, war nicht ärgerlich oder verkrampft. Ganz still lag sie auf dem Bett und wartete, während er sich in ungeduldiger Hast entkleidete. Zum zweiten Mal in dieser Nacht zog er ihr den Morgenmantel aus. Ihr nackter Körper leuchtete in der Dunkelheit, er fühlte seine köstliche Sanftheit unter sich, fühlte, wie sich ihm ihre Schenkel öffneten, um ihn zu umschlingen. Beide Hände legte er um ihr Gesicht und küsste sie, während er gleichzeitig suchte und dann die Nachgiebigkeit fand und langsam in sie eindrang. Die Hitze und die Enge, die ihn umschlossen, erregten ihn so sehr, dass er aufstöhnte.

»Lass es mich vergessen«, sie flüsterte diese Worte voller Verzweiflung. Er drängte sich in sie, so weit es möglich war, hielt sie fest, als sich ihr Körper aufbäumte und sich ihm entgegen-hob. Sie wimmerte leise auf, und ihre Brustspitzen drängten sich an seinen Oberkörper.

Er konnte ihr nur durch seine Leidenschaft Vergessen bringen, konnte ihre Sinne mit seinem Körper füllen und ihr Glück schenken. Er konnte diese Nacht nicht ungeschehen machen, konnte aber die Abgeschiedenheit hier zu ihrem eigenen kleinen Zufluchtsort machen. Seine wilde Leidenschaft bot er ihr dar und sorgte dafür, dass sie diesmal wirklich ihm gehörte; später, in der zärtlichen Stille, schlang er die Arme um sie, damit sie seine Wärme fühlte und den stetigen Rhythmus seines Herzens hörte - sie musste endlich begreifen, dass sie nicht allein war.